BGM: Gesundheit für alle
Betriebliches Gesundheitsmanagement, kurz BGM, ist in der Industrie längst Standard. In jüngster Zeit greifen immer mehr Seniorenheime das komplexe Steuerungsinstrument auf. Die Gründe sind vielfältig und reichen vom Fachkräftemangel bis zum zu hohen Krankenstand. Eine Bestandsaufnahme.
„BGM beleuchtet Arbeitsprozesse und zielt auf die Arbeitsplatzzufriedenheit unserer Mitarbeiter ab“, sagt Anna Koniecko-Sippel. Die gelernte Personalfachkauffrau ist Projektleiterin und BGM-Koordinatorin bei der SSG in Bayern, der Sozialservice-Gesellschaft des Bayerischen Roten Kreuzes. In dieser gemeinnützigen GmbH mit Sitz in München sind seit 2004 insgesamt 28 bayerische Altenheime mit zusammen 4200 Bewohnern und 2400 Mitarbeitern gebündelt.
Zusammen mit Personalleiterin Renate Hilf moderiert Koniecko-Sippel die BGM-Lenkungsgruppe, die Ende 2013 eingesetzt wurde. Ihr gehören die Einrichtungsleiter der fünf bisher beteiligten Häuser und Vertreter des Gesamtbetriebsrates an. Ihr Ziel: In allen Häusern Ansprechpartner definieren und Lenkungskreise installieren. Vor allem aber die Führungskräfte für den Zusammenhang ihres Führungsverhaltens auf die Arbeitszufriedenheit, das Befinden und die Gesundheit ihrer Mitarbeiter sensibilisieren. 2014 trugen die Akteure in erster Linie zusammen, was an Gesundheitsprävention in den einzelnen Häusern bereits vorhanden ist und somit in eine BGM-Strategie eingebunden werden kann. „Betriebliches Gesundheitsmanagement ist weit mehr als die landläufig bekannte Rückenschule“, sagt Koniecko-Sippel. Parallel wurden anonymisiert Daten zum Krankenstand, zu typischen Krankheitsbildern, Fehltagen und deren möglichen Ursachen erhoben. So gewinnt die SSG eine Datenbasis, auf der Vergleiche und Relationen möglich sind.
Schon hier zeichneten sich Unterschiede in einzelnen Häusern sowie zwischen den Bereichen Pflege und Hauswirtschaft ab, die – kombiniert mit anderen Zahlen und Fakten – qualifizierte Aussagen zulassen: Denn die Werte hängen mit dem Altersdurchschnitt der Mitarbeiter in den einzelnen Häusern zusammen, mit den Tätigkeitsprofilen oder der Fachkräftequote. Eine solche Herangehensweise kennt man aus der Industrie, wo Kennziffern erhoben werden, um Schwachstellen und Fehlentwicklungen schneller identifizieren zu können. Besonderes Augenmerk legt die SSG auf die Schnittstellenprobleme zwischen einzelnen Bereichen wie Hauswirtschaft und Pflege etwa oder den Wechseln zwischen Früh-, Spät- und Nachtschichtteams eines Hauses. Denn genau hier liegen die höchsten Reibungsverluste, die zu Verdruss und Erkrankung führen können. „Jeder hofft, der andere hat etwas Bestimmtes gemacht und alle leben in einer dauernden Unsicherheit, etwas könnte versäumt worden sein“, beschreibt Projektleitern Koniecko-Sippel, wozu nicht klar definierte Verantwortlichkeiten führen.
Die Folge: Arbeiten werden doppelt gemacht, gar nicht oder immer von derselben Person, die sich dadurch übervorteilt fühlt. Hinzu kommt die hohe psychische Belastung im Umgang mit pflegebedürftigen Menschen. Deshalb gehört zum BGM nicht nur bei der SSG, dass der einzelne Mitarbeiter um seine eigenen (Belastungs-)Grenzen, aber auch seine fachlichen und sozialen Stärken weiß. Diese werden im Arbeitsalltag ohnehin mehr oder weniger spür- und sichtbar, doch in moderierten gruppendynamischen Prozessen und Reflexionen können diese schonender und systematischer offengelegt werden. Viel Verbesserungspotential für Teams, das hat auch die SSG erkannt, liegt in einer guten Arbeitsvorbereitung, die unnötige Gänge und Aktionen eliminiert, in klaren Arbeitszeiten und gerechten Vertretungen. Denn in vielen Häusern bundesweit – ähnlich wie in Gastronomie und Hotellerie – ist immer wieder zu hören, dass Mitarbeiterinnen nicht frühzeitig genug erfahren, wann sie arbeiten müssen und wann sie frei haben.
Neben dieser Transparenz, die auch viel mit Wertschätzung für die Mitarbeiter zu tun hat, sind Krankheits- und Urlaubsvertretungen ein leidiges Thema. Das ergab zum Beispiel eine Analyse der ÜAG gGmbH, einem Weiterbildungsanbieter in Jena, der sich auf Quereinsteiger und Umschüler in Pflegebereiche spezialisiert hat. Untersuchungen ergaben, dass qualifizierte Frauen lieber in den Einzelhandel wechselten, weil sie in der Pflege Nachtschicht-Vertretungen ohne Ausgleich machen mussten. „Manche Frauen gingen in ihrer Freizeit nicht mehr ans Telefon, um nicht einspringen zu müssen“, sagt ÜAG-Geschäftsführer David Hirsch. Und Gutmütige brannten aus, weil sie in jede Lücke sprangen, in die sie gebeten wurden. Die Lösung des Bildungsanbieters hieß: Vertretungen auf den regulären Schichtplan anrechnen und einen Vertretungsplan hinterlegen. In einem anderen Fall, so Hirsch, fanden sich genügend Nachtschwestern, als der Dienstplan von sieben auf drei Nächte am Stück reduziert wurde. Allerdings, so der Bildungsexperte, erfordere dies mehr Organisationsgeschick von den Vorgesetzten.
„BGM hat viel mit Führung und Selbstverantwortung jedes Einzelnen zu tun“, bestätigt Koniecko-Sippel. Jeder Mitarbeiter sei auch gefordert, sich gesund zu ernähren, ausreichend zu bewegen und in der Freizeit für psychischen Ausgleich zu sorgen. Viele betrachteten dies noch als reine Privatsache und sähen nicht die Wechseleffekte auf das Team. Dass der Krankenstand bei der SSG seit 2010 aber um rund zwei Prozentpunkte gesunken ist, sei ein sichtbarer Erfolg.
Dass BGM nicht nur etwas für große Träger ist, belegt die Wohngemeinschaft für Senioren (WGfS) in Filderstadt bei Stuttgart, die mit 186 Mitarbeitern 130 Senioren betreut. 2007 führte die WGfS das BGM ein, wofür sie 2009 den 1. Corporate Health Award erhielt. 2010 folgte der Deutsche Unternehmenspreis Gesundheit. Und nach dem Gewinn des Deutschen Bildungspreis 2013, bei dem das BGM gleichfalls großen Anteil hatte, hat der private Betreiber ein Bonussystem eingeführt, das geldwerte Vorteile für bisher kostenpflichtige Angebote umfasst.
Nachwuchssorgen hat die WGfS schon länger keine mehr und die Männerquote ist im Team mit 25 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in der Branche. Ein Schlüssel für diese Werte der 1991 gegründeten Einrichtung liegt im Bildungs- und Recruiting-Management, zu dem wiederum die Aspekte Gesundheit und Arbeitsplatzzufriedenheit gehören. WGfS-Gründerin Rosemarie Amos-Ziegler hat etwa den Grundsatz, alle Weiterbildungskosten für ihre Mitarbeiter zu übernehmen, um deren Lern- und Entwicklungswillen zu honorieren. Den Zeitaufwand teilen sich hälftig beide Seiten. Und abhängig von den Seminarkosten bindet sich der Arbeitnehmer zeitlich an die WGfS. Als Faustformel kann gelten: Für 1000 Euro sechs Monate. Wichtig ist der WGfS, weit mehr Fachkräfte mit Zusatzqualifikationen zu haben als von der Heimaufsicht gefordert. Meist übersteigt das Haus die Quote um das Zwei- oder gar Dreifache. Das höhere Bildungsniveau macht sich in besseren (Pflege-) Ergebnissen und höherer Arbeitsplatzzufriedenheit bemerkbar. Beides strahlt nach außen, so dass das Haus viele und gute Anfragen für Pflege- und Arbeitsplätze bekommt.
Je drei Mitarbeiter machen aktuell nebenberuflich die Ausbildung zur Pflegedienstleitung sowie zur Gerontopsychiatrie-Fachkraft. Ein Mitarbeiter qualifiziert sich zum Wundmanager und drei zu Praxisanleitern, die etwa Auszubildende schulen. Geschäftsführer Klaus Ziegler: „Dank der hohen Qualifizierungsquote ist jede Kompetenz in jeder Schicht, während der Urlaubszeit und selbst im Krankheitsfall noch verfügbar.“ Und: Die Experten können untereinander die bestmögliche Lösung diskutieren und ihre Erfahrungen austauschen.
Bei der WGfS kann jeder Mitarbeiter auch zwölf Stunden pro Jahr während seiner Arbeitszeit Kurse in Ernährung und Bewegung (Sport, Gymnastik, Yoga etc.) besuchen. So kann er einen Gesundheitsführerschein erwerben, den mittlerweile 60 Prozent der Mitarbeiter haben. Ziegler: „Wir wollen in den Köpfen ein Bewusstsein schaffen und bei vielen bleibt die Veränderung dauerhaft.“
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