Skandinavien auf der Highroad- ein Vergleich des Pflegesystems im Norden und in Deutschland
Aufgrund von Krankheiten, Unfällen oder Altersschwäche sind Menschen vor allem im hohen Alter immer mehr auf fremde Hilfe angewiesen, um ihren Alltag zu bewältigen. Auch wenn es in Deutschland viele Einrichtungen gibt, die Senioren und pflegebedürftige Menschen unterstützen, ist die Pflege durch Angehörige immer noch stark verbreitet. Durch diese informelle Pflege unterstützt man nicht nur seinen Verwandten, sondern spart natürlich auch noch viel Geld.
Trotz gesetzlicher und privater Pflegeversicherungen ist die Unterbringung in einem Pflege- oder Seniorenheim immer noch teuer und greift häufig auch private Ersparnisse an. Dem deutschen Staat ist es natürlich recht, dass viele Angehörige ihre pflegebedürftigen Verwandten selbst pflegen, denn die öffentliche Finanzierung in Pflegeangelegenheiten ist demnach sehr gering. Es existiert in Mitteleuropa im Hinblick auf die Pflege eine Politik, die in erster Linie darauf abzielt, die Kosten für die Pflege möglichst gering zu halten und das familienbasierte Pflegesystem aufrecht zu erhalten.
Dabei zeigt es sich immer mehr, dass diese Art von Pflege kontraproduktiv ist. Die Nerven der pflegenden Angehörigen werden oft strapaziert, zu Schlafmangel kommt oft Überforderung und die Angst zu Versagen hinzu. Die Gesundheit leidet dabei sehr intensiv, sodass das Risiko bei pflegenden Angehörigen selbst sehr hoch ist, im Alter ein Pflegefall zu werden.
Das Pflegesystem in Skandinavien
Dieses Problem hat man in den skandinavischen Ländern Norwegen, Schweden, Dänemark, Finnland und Island erkannt und das Pflegesystem geändert. Hier hat die professionelle Pflege Vorrang. Durch eine hohe öffentliche Finanzierung ist eine qualitativ hochwertige kommunale Pflegeinfrastruktur in Skandinavien entstanden. Hier wird ein sehr großer Teil der Pflegekosten von den Gemeinden übernommen. Die Angehörigen können arbeiten gehen, während ihre Verwandten professionell betreut werden.
Während in Mitteleuropa das Solidarsystem Familie besteht, in dem hauptsächlich der Mann arbeiten geht und die Frau gegen eine geringe Anerkennungsprämie (Pflegegeld) die Fürsorgeaufgabe übernimmt, hat sich in den skandinavischen Ländern ein umfassendes wohlfahrtsstaatliches Dienstleistungsangebot herausgebildet, das auf Egalität ausgerichtet ist und die Basis für eine zumindest annähernd gleich hohe Erwerbsbeteiligung von Männern und Frauen bietet.
Dieses skandinavische System zielt in erster Linie darauf ab, das professionelle Pflegesystem zu stützen und weiter zu entwickeln. Allerdings nur mit der Einschränkung, dass die Pflegepolitik im Markt-Staat-Untertyp vorrangig auf die öffentlichen Leistungen bezieht. Das „sozialdemokratische Wohlfahrtsregime“ aus dem Norden ist dabei vor allem bedarfsorientiert und basiert auf dem Solidaritätsprinzip, das heißt alle Mitglieder einer Gemeinschaft stehen füreinander ein, es besteht eine institutionelle Solidarität.
Im Gegensatz dazu setzt das ausgabenorientierte Mitteleuropa auf das Subsidiaritätsprinzip. Dies bedeutet, dass der Staat ganz am Ende der Pflegekette steht, seine Leistungen sind eher ergänzend und nachrangig. Hierbei spricht man von einem „konservativen Wohlfahrtssystem“.
Skandinavien auf der „Highroad“
Doch was macht das skandinavische formelle Pflegesystem besser als das Deutsche? Was kann Deutschland von Skandinavien lernen?
Investitionen in ein gutes öffentliches Pflege- und Betreuungssystem entlasten die Sozialkassen und steigern das Potenzial an gut qualifizierten Arbeitskräften. Dort, wo Pflege als öffentliche Aufgabe und öffentliches Gut betrachtet wird, entstehen im Pflegesektor gut bezahlte, qualifizierte Arbeitsplätze, die für Wachstum sorgen. Außerdem erzeugen die Investitionen eine „demografische Dividende“, entschärften also für die Zukunft das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Pflegebedürftigen und Pflegenden. Die skandinavische Volkswirtschaft begibt sich so auf einen höheren Beschäftigungsgrad, auf eine sogenannte „High Road“. Die geringen Investitionen in die Pflege führen in Deutschaland leider auf die „Low-Road“.
Doch warum folgt Deutschland nicht dem skandinavischen Beispiel?
Die herrschende Vorstellung in Deutschland lautet: Eine qualitativ hochwertige Professionalisierung der Pflege wird hierzulande weder von den Pflegebedürftigen noch von ihren Angehörigen gewünscht. Die Deutschen präferierten aus sozio-kulturellen Gründen die Familienpflege durch Angehörige. Hinzu kommt noch das Misstrauen der Angehörigen an das deutsche Pflegeangebot. Demnach haben viele Deutsche das Bild einer Pflege in Deutschland, die oft unmenschlich mit den Betroffenen umgeht, da sie aus Zeitmangel nur wenig Zeit in die Pflege ihrer Angehörigen investieren. Mit der Schaffung einer Pflegeversicherung wurde zweierlei anerkannt.
- Erstens, dass in der rasch älter werdenden deutschen Gesellschaft die Zahl der Pflegebedürftigen stark ansteigt. Darunter im Besonderen die Zahl der Schwerstpflegefälle, deren Pflege und Versorgung kaum noch von den Angehörigen geleistet werden kann.
- Zweitens, dass sich Familienstrukturen dahingehend geändert haben, dass parallel zum wachsenden Pflegebedarf das Reservoir potenziell pflegender Angehöriger sinkt.
Monatliche Beiträge in Pflegeversicherungen müssen die skandinavischen Bürger eigentlich nicht bezahlen. Hier übernehmen die jeweiligen Kommunen die Finanzierung der Pflege. Angst vor einer schlechten Pflege der Angehörigen hat hier keiner, man vertraut auf die Professionalität der Einrichtungen und der Pfleger.
Außerdem wird sehr viel Wert auf die Selbständigkeit der Pflegebedürftigen gelegt. Menschen ohne körperliche Defizite, aber mit gewissen Einschränkungen bei der Alltagskompetenz sind teilweise bis vollständig leistungsberechtigt. Daher haben Tageseinrichtungen eine wichtige Funktion in Skandinavien. Sie sichern Verpflegung, soziale Teilhabe und gesundheitliche Überwachung der Senioren, ob pflegebedürftig oder nicht. Das Pflegeverständnis ist also sehr hoch geschrieben.
Die Entwicklung des Pflegesystems in Skandinavien
Von den späten 1960er bis Mitte der 1990er Jahre betrieb die skandinavische Politik einen dynamischen Ausbau der Care-Ökonomie von der Kinderbetreuung bis zur Altenpflege. Aufgrund des starken Ausbaus der formellen Pflege stehen die skandinavischen Länder in dieser Hinsicht nun auch im internationalen Vergleich an der Spitze. Seit der Wandlung sind die Leistungen der kommunalen Care-Ökonomie in den Gesetzen über Gesundheitsdienste und Soziale Dienste geregelt.
Sollten die Angehörigen trotz der hohen Professionalisierung auf die eigenständige Pflege ihrer Verwandten bestehen, erhalten Pflegende Lohnersatzleistungen und keine Anerkennungsprämie wie in Deutschland. Sie sind dann entgegen einer entsprechenden Bezahlung im Auftrag ihrer Kommune tätig.
Im Hinblick auf die Pflegekräfte hat sich seit dem Ausbau der Care-Ökonomie sehr viel verändert. Die Qualifikation der Pflegefachkräfte wurde seit Ende der 1970er Jahre akademisiert. In der Folge gewann „Pflege“ als wissenschaftliche Disziplin Profil und es wurden früh Pflegestandards definiert und zur Anwendung gebracht, bei denen medizinische, pflegerische und psychosoziale Sichtweisen gleichberechtigt zum Tragen kommen.
Um eine hohe Betroffenenzahl an Krankheiten zu vermeiden, damit die Kommunen weniger Langzeitpflege finanzieren müssen, legt man in Schweden, Finnland, Island, Norwegen und Dänemark sehr viel Wert auf die Prävention von kostenspieligen Krankheiten wie beispielsweise Demenz.
Natürlich darf man das deutsche Pflegesystem nicht nur kritisieren. Man findet sehr viele positive Beispiele für eine gute professionelle und qualitativ hohe Pflege in Deutschland und seinen Nachbarländern.
Auch das familienbasierte Pflegesystem hat sehr viele Vorteile. Die pflegebedürftigen Patienten können in ihrer gewohnten Umgebung bleiben und sind von ihren Liebsten 24- Stunden umgeben. Um die Angehörigen dennoch zu entlasten, schadet es dem deutschen System nicht, sich das servicebasierte System in Skandinavien genauer anzusehen und Elemente davon zu übernehmen.
Wieviele der 17 Millionen Alleinlebenden in Deutschland können auf eine Pflege „ihrer Liebsten“ zählen? Die Zahl der einsam und hilflos Sterbenden wird dramatisch zunehmen. Wir sind darauf nicht vorbereitet. Nicht die noch rüstigen Alleinlebenden. Gar nicht die Gesellschaft.