Einsatz von Alltagsunterstützenden Assistenzsystemen bei der Evangelischen Heimstiftung
Die Evangelische Heimstiftung verbindet Pflege mit Technologie und ist somit Vorreiter in Deutschland auf dem Gebiet der alltagsunterstützenden Assistenzsystemen. Anke Paulick, Geschäftsführerin von Wohnen-im-Alter.de, interviewte Bernhard Schneider, Hauptgeschäftsführer der EHS, zum Thema Assistenzsystem in der Pflege.
Interview zum Thema Alltagsunterstützende Assistenzsysteme bei der EHS
Im Frühjahr 2016 haben Sie sich an einem Berliner Technologie-Startup beteiligt, um Ihre Neubauprojekte im Betreuten Wohnen mit alltagsunterstützenden Assistenzsystemen auszustatten. Welche Ziele verfolgen Sie damit?
- Bei der Evangelischen Heimstiftung möchten wir unseren Kunden individuelle Lösungen anbieten, die möglichst genau auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Weil sich diese mit der Zeit verändern, tun wir es auch. Dafür haben wir einen Partner gesucht, der innovative Technologien beherrscht und gleichzeitig ethisch reflektiert einsetzt und entwickelt. Mit der escos-automation GmbH haben wir ihn gefunden und gemeinsam ein Konzept entwickelt, das Menschen ein selbstbestimmtes Leben im Alter und bei Pflegebedürftigkeit ermöglicht.
Ihr Start-up Partner escos bietet Sicherheitsmodule (Wasseralarm, Alles Aus Steuerung, Rauchmelder und Herdüberwachung), AAL-Module (Türmelder, Abwesenheitsmelder, Aufstehmelder, Inaktivitätsmelder, Sturzerkennung, Orientierungslicht, Gefahrzonen-Überwachung, Tag-Nacht-Tracker, Video-Türkommunikation und Medikamenten-Erinnerung) sowie Komfort-Module (Fenster-Melder, Visuelle Türklingel, Rollladen-Steuerung) an. Eine Lösung für alle oder ist eine Differenzierung nach Unterstützungsbedarf oder Krankheitsbild geplant? Welche Module nutzen Sie für welche Zielgruppen?
- Wir haben ALADIEN als mitwachsendes System konzipiert, so dass alle Module zu jedem Zeitpunkt zu- und abschaltbar sowie in jedem Handlungsfeld einsetzbar (ambulant, stationär, akut) sind. Ausgangspunkt für den Technologieeinsatz ist immer der individuelle Bedarf, der sich daran bemisst, wie viel Ressourcen vorhanden sind, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. ALADIEN schließt die Lücke an fehlenden Ressourcen durch den Bürger-Profi-Technik-Mix. Technik kommt also nicht isoliert zum Einsatz, sondern ist immer Teil eines Quartiersentwicklungsansatzes, der professionelle Dienstleistungen und bürgerschaftliches Engagement gleichermaßen berücksichtigt.
Was sind die Vorteile für Bewohner, Angehörige und Pflegekräfte?
- Menschen möchten möglichst lange in der eigenen Häuslichkeit verbleiben. Wir möchten, dass sie dort sicher sind. ALADIEN macht beides möglich, indem der Übergang in stationäre Settings – also im klassischen Pflegeheim – verzögert oder sogar verhindert wird. Das gibt den Kunden und ihren Angehörigen ein gesteigertes Sicherheitsempfinden und reduziert Fehlalarmen, indem Hilfe immer dann geholt wird, wenn sie tatsächlich notwendig ist. Außerdem wird ALADIEN durch ein seniorengerechtes Tablet bedient. Das bietet unseren Kunden einen vereinfachten Zugang zu Dienstleistungs- und Teilhabeangeboten. Ein weiterer Vorteil ist die angesprochene Individualität, weil sich das System durch den modulhaften Aufbau an jeden Kunden optimal anpasst.
Wie ist der aktuelle Status? Ist die Technologie bereits live im Einsatz?
- ALADIEN geht im April 2017 in Betrieb: Im Paul Collmer Heim, eine unserer Traditionseinrichtungen in Stuttgart, eröffnen wir eine Muster- und Probewohnung mit ALADIEN, die wir für Kunden, Angehörige, Mitarbeiter, Pflegeschüler und weitere Interessierte anbieten. Ab Herbst 2017 können sich Kunden für ALADIEN als Nachrüstlösung in der eigenen Häuslichkeit entscheiden.
Brauchen Bewohner zusätzlich den klassischen Hausnotruf? Wohin gehen die Alarmmeldungen? Hat die Technologie eine Antwort zur Reduzierung von Fehlalarmen?
- Das Hausnotrufgerät ist in ALADIEN integriert und gewährleistet nach wie vor in kritischen Situationen eine Sprechverbindung zum Bewohner. Dafür kommuniziert ALADIEN mit der Hausnotrufzentrale. Anders als beim klassischen Hausnotruf reduziert das System aber Fehlalarme, indem es risikobehaftete Situationen erkennt. Wenn etwa jemand stürzt, wird ALADIEN durch die Bodensensoren alarmiert, wenn der Herd an ist, aber kein Topf darauf steht, wird er ausgeschaltet, usw.
Ist Technologie allein hilfreich, oder benötigt sie Vernetzung mit weiteren Dienstleistungen?
- Ein isolierter Technikeinsatz ist nicht zielführend. Deshalb haben wir ALADIEN als Symbiose zwischen Technologie und Dienstleistungen konzipiert. Denn wenn wir mehr Teilhabe und Selbstbestimmung anbieten möchten, müssen wir professionellen wie auch bürgerlichen Dienstleistungen den Zugang zu ALADIEN ermöglichen. Dies gilt für kritische Situationen wie z.B. ein nächtlicher Sturz, der etwa die Mobilen Dienste oder einen Nachbarn alarmiert und es gilt für die Organisation von bürgerschaftlichem Engagement, etwa in Form von Kultur-und Freizeitangeboten. Wir haben ALADIEN außerdem auf Einsatz von Telemedizinischen Lösungen vorbereitet, die Hausärzte und Kliniken in den Versorgungsansatz mit ihren Prozessen und Strukturen einbetten.
Die Technologie sammelt zahlreiche Bewegungs- und Verhaltensdaten der Bewohner. Wie wird der Schutz der Privatsphäre sichergestellt? Wie werden Ihre smarten Wohnanlagen und Pflegeheime gegen Hackerangriffe geschützt?
- Den Aspekt der Datensicherheit nehmen wir sehr ernst, zumal in ALADIEN höchst sensible Daten verarbeitet werden. Durch den Einsatz einer cloudbasierten Middleware garantieren wir höchste Datensicherheit durch ein professionell gemanagtes System. Die Daten liegen auf deutschen Servern und erfüllen alle Vorgaben des Bundesdatenschutzgesetzes. Damit ist der Sicherheitsstandard unseres Systems höher als etwa bei herkömmlichen Online-Banking-Systemen.
Wie kommt die Assistenz bei Bewohnern und Angehörigen an?
- Wir merken, dass die Anfrage nach technischen Assistenzsystemen sehr hoch ist. So viele Wohnungen können wir gar nicht mit ALADIEN ausstatten, wie nachgefragt werden. Ab April ist das System dann in Betrieb und wir werden – auch im direkten Gespräch mit unseren Nutzern – weitere Erfahrungen sammeln.
Wie viele Wohnungen planen Sie in nächster Zeit auszustatten? Funktioniert die Lösung in Neubau und Bestand?
- ALADIEN funktioniert in Neubauten und in Bestandsbauten als Nachrüstlösung. Für 2017 haben wir uns vorgenommen, etwa 100 Einheiten auszustatten, in den kommenden Jahren legen wir nach mit rund 150 Einheiten im Jahr, sowohl im Betreuten Wohnen als auch in der eigenen Häuslichkeit.
Werden Sie mit Assistenzsystemen und Services auch ins umliegende Quartier gehen, um Menschen in ihrem gewohnten Umfeld zu unterstützen? Wie können solche Modelle aussehen? Ist die Zeit reif für einen technologiegestützten Concierge-Service?
- Das sind alles denkbare und auch sinnvolle Modelle. Das Projekt QuartrBack, bei dem die Evangelische Heimstiftung Konsortialführer ist, gehört dazu. QuartrBack ist ein innovatives Risikomanagementsystem, das vor allem demenziell erkrankten Menschen mehr Sicherheit und Unterstützung im Alltag ermöglicht. Das Prinzip ist einfach: Nehmen wir an, jemand verirrt sich auf dem Weg in die Stadt. Dann kann er QuartrBack betätigen und wird mit einem geschulten Mitarbeiter verbunden, der ihm die passende Unterstützung anbietet: Er benachrichtigt einen Angehörigen oder einen Ehrenamtlichen bzw. Nachbarn, der sich in der Nähe befindet. Auch QuartrBack ist ein sinnvolles Beispiel für den Bürger-Profi-Technik-Mix.
Gibt es dafür schon eine aktive Nachfrage bei Senioren und ihren Angehörigen?
- Genauso wie für ALADIEN wird auch QuartrBack bereits angefragt. Wir entwickeln das Projekt derzeit mit interessierten Bürgern an Modellstandorten.
Wie hoch sind die monatlichen Kosten und wie ist das Geschäftsmodell? Teil der Service-Komponente im Betreuten Wohnen, Privatzahlerleistung oder abrechenbar mit der Pflegekasse
- Bei ALADIEN handelt es sich im Wesentlichen um Selbstzahlerleistungen. Dienstleistungen werden über die Grundpauschale im Betreuten Wohnen bzw. wenn möglich mit der Pflegekasse abgerechnet.
Mit Ihrem Projekt sind Sie Vorreiter auf diesem Gebiet. Wie verbreitet ist das Thema technikgestützte Assistenz aus Ihrer Sicht bei Anbietern der Altenpflege? Gibt es Best Practices bei Kollegen, die Sie spannend finden?
- Es gibt vor allem in der Freien Wohlfahrtspflege einige Akteure, die das Thema Alltagsunterstützende Assistenzsysteme bearbeiten. Zu beobachten sind viele hervorragende Insellösungen, die aber nicht immer miteinander kompatibel sind. Deshalb soll ALADIEN als Plattform weiterentwickelt werden, die es Akteuren der Freien Wohlfahrtspflege ermöglicht, eigene Lösungen mit denen anderer Akteure in ein Gesamtsystem zu integrieren und auf einer gemeinsamen Plattform zu vermarkten.
Denken Sie das Thema Automatisierung weiter? Welchen Technikeinsatz sehen Sie im Betreuten Wohnen, der Ambulanten Pflege und Pflegeheim im Jahr 2030? Welchen im Jahr 2050?
- Wir werden auch weiterhin vorhandene Technologien nutzen, um unsere Dienstleistungen so weiterentwickeln, dass sie unseren Kunden immer mehr Unterstützung bieten. Ob wir uns 2030 mit Telemedizin-Anwendungen beschäftigen oder schon mit Pflege-Robotik, das kann keiner derzeit wissen. Die Evangelische Heimstiftung ist aber offen für beides und noch vieles mehr.
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