Barrierefreiheit heißt nicht automatisch altengerecht

Im Münchner Norden entsteht eine der größten Pflegeimmobilien in ganz Süddeutschland. Das BRK-Seniorenwohnen wird saniert und um ein zehngeschossiges Hochhaus erweitert. Neben einer stationären Pflege mit 120 Plätzen, entstehen 66 Apartments für betreutes Wohnen. Außerdem zieht die Verwaltung des Trägers ins Haus. In einem neuen Nebengebäude sollen später Mitarbeiterwohnungen entstehen. Die Gesamtnutzfläche liegt bei 52.000 m².

Verständlich, dass sich die Sozialservice-Gesellschaft (SSG) als Träger, der bayernweit 26 Einrichtungen betreibt, Gedanken zur altengerechten Ausstattung der Immobilie macht. Die gesetzlichen Vorgaben vor Augen findet deshalb am zweiten Münchner SSG-Standort, im Pasing-Westkreuz, unlängst eine Gutachtertagung statt. Das Besondere daran: Statt im Hotel zu konferieren, treffen sich die Experten für Pflegeimmobilien vor Ort, reden mit Bewohnern und Beschäftigten und bekommen so ein direktes Feedback zur Bausubstanz.

Neuer Leitfaden

Einer der Dozenten ist der Architekt Markus Donhauser. Seine These: „Barrierefrei ist nicht altengerecht“, so der Regensburger, der sich seit fast 30 Jahren mit Pflegeimmobilien beschäftigt. Aktuell schreibt er mit den Co-Autoren Dr. Birgit Dietz und Klaus Helzel für die bayerische Architektenkammer im Auftrag des Ministeriums für Gesund und Pflege einen „Leitfaden zur baulichen Umsetzung von pflegerischen Versorgungsformen“.

Im Gespräch wird deutlich: zwischen Barrierefreiheit und altengerechtem Bauen klafft eine Lücke. Die soll der Leitfaden, der diesen Herbst erscheint, schließen. Was genau der Unterschied ist, erklärt Donhauser anhand des R-Standards, der für uneingeschränkt mit dem Rollstuhl nutzbar steht: Denn wer eine R-Toilette betritt, sieht eine Kloschüssel ohne Toilettendeckel, beidseitig sind Haltegriffe montiert und der Spülschalter ist nicht in die Wand eingelassen, sondern vorn angebracht. Eine 30-jährige Rollstuhlfahrerin, die ihren Alltag weitestgehend alleine meistert, kommt in dieser Toilette prima zurecht.

70 Prozent sind dement

„Das Problem ist nur, dass bis zu 70 Prozent der Altenheimbewohner von Demenz betroffen sind“, so Donhauser. Und einen dementen Bewohner irritiere es, wenn er auf dem Lokus keinen Klodeckel finde. Auch komme er nicht damit zurecht, wenn die Spültaste nicht an vertrauter Stelle sitzt. Selbst die Haltegriffe wirken auf ihn befremdlich. „In Pflegeheimen werden viele Hygienetätigkeiten wie der Toilettenbesuch assistiert“, erklärt Donhauser. Die Vorgaben des barrierefreien R-Standards, dienen allerdings Menschen kaum, die auf genau diese pflegende Hilfe angewiesen sind.

Gleiches gelte für Lichtschalter. Die müssen laut R-Standard auf einer Höhe von 85 cm an die Wand montiert sein. Zuhause ertasten Senioren diese allerdings 20 cm höher. Wieder eine Irritationsquelle. Und auch das Pflegepersonal, das ein Tablett trägt, kann das Licht mit dem Ellenbogen nur anschalten, wenn es in die Knie geht. ergonomisches Arbeiten sieht anders aus. Bauseitig wirkt sich der R-Standard so aus, dass ein Viertel aller Pflegezimmer diesem entsprechen müssen. „Doch weil die Nachfrage hoch ist, nimmt jeder Bewohner, was er kriegen kann“, so der Planer. In der Folge findet der, der ein R-Zimmer benötigt kaum eines. Donhausers Idee, und die seiner Co-Autoren, ist ein altengerechter Zimmertyp, der allerdings zu 100 Prozent in den Heimen umgesetzt wird.

Personalbedürfnisse wahrnehmen

Neben den Bewohnerinnen selbst gilt Donhausers Augenmerk den Mitarbeitern. „Bauherren sollten deren Bedarf stärker wahrnehmen“, rät der Architekt. Konkret bedeutet das neben der Pflegeimmobilie (bezahlbaren) Wohnraum anzubieten. „Wer das kann, wird im Ringen um Fachkräfte punkten“, prognostiziert Donhauser, der zudem empfiehlt, den Fokus auf den Arbeitsplatz zu richten. Enge, stickige Umkleide- und Pausenräume im Keller eines Heims, können als Bausünden aus dem vorigen Jahrhundert einsortiert werden.

Stattdessen listet Donhauser auf, was heute zwingend ist: Pausenräume sollten eine Fläche von mindestens 25 m² aufweisen, eine kleine Küchenzeile haben, loungeartig unterteilt sein. Ein Zugang ins Freie wäre schön und ideal, wenn er sonnengeschützt ist. Eine gute Akustik sorge zudem für einen entspannten Aufenthalt. Dabei betont der Planer: Es gehe nicht darum, Luftschlösser zu entwerfen, die unfinanzierbar sind. Aber eine Aufwertung des Bestands sei notwendig – so wie im Projekt Kieferngarten.

Dazu zählt auch eine Architektur der kurzen Wege. Beträgt die Distanz zwischen Stations- und Bewohnerzimmer wie in manchem Altbau bis zu 130 Meter, wirke das demotivierend fürs Personal. Zumal dann meistens für das Herholen von Mobilitätshilfen ebenfalls lange Wegstrecken zurückgelegt werden müssten. Einladender wären Distanzen von 30, besser 20 Meter. „Dann würden Lifter oder Rollatoren deutlich eher benutzt“, beobachtet Donhauser.

Bauliche Todsünde

K.o.-Kriterien in Pflegeimmobilien seien außerdem Schwellen, die Bewohner überwinden müssen, ehe sie im Außenbereich ankommen. Selbst wenn diese unter zwei Zentimeter hoch sind, stellen sie für Rollatoren eine unüberwindbare Hürde dar. Im Neubau im Kieferngarten setzt die SSG daher auf die sogenannte „Null-Barriere“. Das ganze Haus ist schwellenfrei.

Bauliche Todsünden wie Gebäude mit nur einem Aufzug oder Stationen, mit langen Fluren, an denen sich bis zu 40 Bewohnerzimmer reihen sollten der Vergangenheit angehören. Architekt Donhauser empfiehlt stattdessen, daraus drei Wohngruppen mit je zwölf Bewohnern zu machen – bei gleichbleibender Versorgungsstruktur. „So eine Kleinteiligkeit ist für Demenzkranke wertvoll, weil diese mit größeren Gruppen überfordert sind“, so Donhauser. (FOTO: pexels / Kampus Production)

 

Michael Sudahl

Michael Sudahl ist freier Journalist in Schorndorf

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